Ionisierende Strahlung und die öffentliche Meinung – eine kritische Betrachtung

Ionisierende Strahlung und die öffentliche Meinung – eine kritische Betrachtung

Angesichts der aktuellen Ereignisse um das Kernkraftwerk Fukushima und die Folgen, ist das Thema Radioaktivität wieder verstärkt in den Medien präsent.

Der 25. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April trägt ebenso dazu bei. Leider bleibt festzustellen, dass die Berichterstattung in den Medien vielfach fehlerhaft und unvollständig ist, was naturwissenschaftliche Tatsachen betrifft, und damit generell die Radioaktivität in ein schlechtes Licht rückt. Ein schlechtes Image über Radioaktivität wird dabei nicht nur in der bekannten Tageszeitung mit den vier Buchstaben verbreitet, auch Medien, sich selbst gern von der journalistischen Qualität des genannten Boulevardblattes distanzieren, sind oftmals keine leuchtenden Vorbilder, wenn es um die Berichterstattung rund um Radioaktivität, Grenzwerte und deren Interpretation geht.

Erstens: Messwerte und -größen werden oft verwechselt bzw. unvollständig wiedergegeben. Der Unterschied zwischen Dosis und Dosisleistung, der Feuerwehrleuten bereits bei den Grundlagen der ABC-Ausbildung vermittelt wird, bleibt genauso oft auf der Strecke, wie die Angabe von Aktivitäten in Becquerel, zu denen immer der Mengenbezug (pro Kilogramm, Liter oder Quadratmeter) und vor allem die Nuklidangabe gehört.
Ein Negativbeispiel im Umgang mit Messgrößen ist der Beitrag von Spiegel online vom 21.04.2011. Dies beginnt schon bei der Überschrift „Japan legt hohe Strahlengrenzwerte für Kinder fest“ – wer entscheidet hier was ‚hoch‘ ist? Ein Journalist? Auf welcher Grundlage die Unterscheidung ‚niedrig‘ und ‚hoch‘ getroffen wurde, bleibt ebenso fraglich.
Im ersten Absatz wird berichtet, dass infolge der Fukushima-Katastrophe in Japan der Grenzwert für Kinder in Schulen und Kindergärten auf 3,4 µSv/h festgesetzt wurde. „Nach Spiegel-Informationen kann sich dies auf das Jahr hochgerechnet bei acht Stunden Aufenthalt pro Tag im Freien auf rund 20 mSv aufsummieren […]“
Kontrollrechnung: 3,4 µSv/h * 8 Stunden * 365 Tage = 11,096 mSv (gerundet 11 mSv)
Wie bei dieser Rechnung 20 mSv/a zustande kommen, bleibt schleierhaft. Wenn man mit der Annahme rechnet, dass kein Kind an 365 Tagen im Jahr die Schule bzw. den Kindergarten aufsucht, sondern Wochenenden, Feiertage, Ferien usw. abzieht, müsste der Wert noch deutlich unter 11 mSv im Jahr liegen. Zudem ist der Grenzwert 3,4 µSv/h für den Aufenthalt im Freien angesetzt, so dass hier wahrscheinlich ausschließlich von luftgetragener Aktivität ausgegangen wird (ein entsprechender Hinweis fehlt leider im Text).

Zweitens: Die positiven Eigenschaften ionisierender Strahlung geraten völlig in den Hintergrund. Die „Strahlenphobie“ hat in Einzelfällen schon dazu geführt, dass Patienten eine lange geplanten Termin für eine nuklearmedizinische Untersuchung spontan abgesagt haben – Grund: Angst vor der Strahlung. Selbst Röntgenuntersuchungen werden inzwischen kritischer gesehen und hinterfragt. Über die Strahlenexposition bei Flugreisen macht sich hingegen kaum jemand Gedanken. Dabei kann ein Transatlantikflug von Frankfurt/Main nach New York durchaus mit ca. 30 µSv zu Buche schlagen. Zusammen mit dem Rückflug kommen ca. 60 µSv zusammen. Zum Vergleich, eine Zahnröntgenaufnahme verursacht eine Dosis von ca. 10 µSv, eine Mammografie bis zu 0,5 mSv.
Niemand käme auf den Gedanken, eine Knopfzelle mit einer Hochspannungsleitung gleichzusetzen, obwohl beide elektrische Energie bereitstellen. Doch in Bezug auf Radioaktivität bleiben Größenordnungen und die Differenzierung ‚gefährlich‘‚ungefährlich‘ leider vielfach auf der Strecke. Alles was strahlt, ist per se als gefährlich und damit als negativ einzustufen – egal ob es sich um ein Brennelement oder um ein kurzlebiges Radionuklid in der Nuklearmedizin handelt.

Drittens: Die Jodtabletten-Hysterie. Als schon kurz nach den Ereignissen in Japan das Thema Jodtabletten durch die Medien geisterte, registrierten die Apotheken steigende Verkaufszahlen bei Jodtabletten. Die Dosierung der frei verkäuflichen Tabletten beträgt 84 µg Kaliumjodid, entspricht 65 µg Jodid pro Tablette. Die Tabletten (häufig auch als „Lannacher“-Tabletten bezeichnet), die im Rahmen des nuklearen Katastrophenschutzes vorgehalten werden, sind mit 65 mg KJ (entspricht 50 mg Jodid) pro Tablette dosiert. Zwischen den frei verkäuflichen und den zur Jodblockade vorgesehenen Tabletten liegt somit etwa der Faktor 1000 (exakt 774) bzgl. der Dosierung! Oder anders herum gesagt: Um die Wirkung einer „echten“ Jodtablette im Ernstfall zu erzielen, müsste man 774 der frei verkäuflichen Tabletten einnehmen. Guten Appetit!
Fundierte Informationen zur Jodblockade sind auf der der Internetseite des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit unter www.jodblockade.de zu finden.

Viertens: Auch Strahlenmessgeräte erfreuen sich steigender Beliebtheit, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) kürzlich in ihrer Online-Ausgabe berichtete. Ob alle stolzen Besitzer mit ihren frisch erworbenen Messgeräten auch eine korrekte Messung durchführen können und vor allem die angezeigten Messwerte richtig interpretieren können, bleibt zu bezweifeln. Trotzdem ist das Gerät Gamma-Scout offensichtlich ein solcher Verkaufsschlager, dass es z.B. beim Versandhändler Conrad-Electronic erst im Februar 2012 (!) wieder lieferbar sein soll.

Abschließend bleibt nur festzustellen, dass die Strahlenhysterie zwar die Umsätze einzelner Branchen kurzfristig steigern kann, aber an dem mangelnden Verständnis für einfache physikalische Grundlagen, das in großen Teilen der Bevölkerung vorherrscht, leider nichts ändern kann und wird. Für den fachkundigen Leser führt die Berichterstattung in den Medien oftmals nur zu Kopfschütteln, falls man dem ein oder anderen Beitrag nicht wegen des hohen Unterhaltungswertes ein Schmunzeln abgewinnen kann. Von daher ist es auch Aufgabe der Einsatzkräfte in den ABC-Einheiten auf die korrekte Verwendung der Messgrößen (s.o.) hinzuwirken und vor allem Aufklärungsarbeit hinsichtlich des Themas Jodtabletten zu leisten. Gerade Notfallstations-Übungen bieten hierfür die beste Gelegenheit.

7 Comments

  1. Jens Christiansen

    Auch andere Leute haben bei ihrer Strahlenschutz-Ausbildung aufgepasst. 😉
    Den Dreisatz lasse ich mal unkommentiert; 774 Jedermanns-Tabletten aus der Apotheke ergeben die Wirkung einer KJ-Tablette zur Jodblockade – Teileinheiten und Vielfache davon kann sich jeder selbst ausrechnen. 😉

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